
Wenn die Welt sich ändert, aber keiner mehr richtig mitkommt
Jul 19, 2025Immer wieder hören wir das von Kollegen, die seit ein oder zwei Jahrzehnten im Praxisalltag stehen. Früher war klar, worauf man sich verlassen konnte: Die Strukturen rund um Abrechnung, Mitarbeitende, Fortbildungen und Patientenbeziehungen wirkten stabil. Entscheidungen, auch wenn sie schwierig waren, folgten einer nachvollziehbaren Logik.
"Ich kümmere mich um alles Mögliche - und immer weniger um das,
was meinen Beruf einmal ausgemacht hat.“
Veränderungen kamen - aber sie kamen planbar, in Wellen. Heute scheint dagegen vieles gleichzeitig zu passieren. Und nicht selten entsteht das Gefühl, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.
Was ist geschehen?
Wer heute im ambulanten Gesundheitswesen eine Praxis führt, steht an der Schnittstelle zwischen komplexen Systemanforderungen und individuellen Lebensrealitäten. Und spürt am eigenen Leib, dass viele der gewohnten Erklärungsmodelle für die Herausforderungen des Alltags nicht mehr greifen. Genau hier setzen die Begriffe **VUCA** und **BANI** an. Sie kommen ursprünglich aus dem Bereich von Unternehmensführung, Militärstrategien und Sozialwissenschaften - und bieten mittlerweile auch für die Welt des ambulanten Gesundheitswesens eine hilfreiche Sprache, um das eigene Erleben besser zu verorten.
Disclaimer
VUCA - Die veränderte Außenwelt benennen
Das VUCA-Modell wurde bereits in den 1990er Jahren im amerikanischen Militär geprägt und später in der Unternehmenswelt aufgegriffen. Die vier Buchstaben stehen für:
Volatility (Volatilität)
Schwankungen und Unberechenbarkeit von Entwicklungen
Uncertainty (Unsicherheit)
Mangel an verlässlichen Informationen oder stabilen Prognosen
Complexity (Komplexität)
Vielschichtigkeit von Zusammenhängen, die schwer durchschaubar sind
Ambiguity (Mehrdeutigkeit)
Uneindeutigkeit und Interpretierbarkeit von Informationen und Situationen
Warum das heute relevant ist
Viele ambulante Praxen waren lange Zeit kleine, lokal verankerte Einheiten mit eingespielten Abläufen. Der Bedarf, sich mit komplexen Zukunftsmodellen oder globalen Dynamiken zu beschäftigen, war eher gering. Doch mit zunehmender Digitalisierung, politischen Reformen, Personalknappheit und gesellschaftlichem Wandel ist der Alltag im Gesundheitswesen nicht nur hektischer - er ist **grundlegend unübersichtlicher** geworden.
"Es fühlt sich an, als würde ich mich jeden Tag ein Stück weiter von dem entfernen,
wofür ich eigentlich angetreten bin.“
Hier einige konkrete Beispiele für VUCA im Praxisalltag
Volatilität zeigt sich, wenn politische Entscheidungen kurzfristig umgesetzt werden müssen, z. B. neue Vorgaben zu Hygiene, Abrechnung oder digitaler Dokumentation, die kurzfristig ganze Arbeitsabläufe verändern.
Unsicherheit begegnet uns in der Frage: Welche Regelung gilt ab wann - und bleibt sie bestehen? Die Zahl der Verordnungen und Rücknahmen wächst.
Komplexität zeigt sich z. B. in widersprüchlichen Anforderungen: Datenschutz vs. Patientensicherheit, Qualitätsmanagement vs. Bürokratieabbau, Teamkultur vs. wirtschaftlicher Druck.
Mehrdeutigkeit spüren viele bei der Auslegung gesetzlicher Vorgaben. Was aus Sicht der Politik sinnvoll erscheinen mag, kann aus ärztlicher Sicht massive Belastungen erzeugen - machmal leider sogar ohne spürbaren Nutzen für die Patienten.
BANI - Wenn die Außenwelt das Innere erschüttert
Während VUCA primär die Strukturveränderungen im Außen beschreibt, fokussiert das BANI-Modell auf die innere Reaktion des Menschen. Es wurde etwa ab 2020 von Jamais Cascio geprägt - als Antwort auf die zunehmende psychologische Erschütterung angesichts globaler Krisen. BANI steht für:
Brittle (Brüchigkeit)
Systeme wirken stabil, zerfallen aber bei kleinster Überlastung
Anxious (Ängstlichkeit)
Permanente Anspannung lähmt Handlungsfähigkeit
Non-linear (Nicht-Linearität)
Kleine Ursachen haben große, unvorhersehbare Wirkungen
Incomprehensible (Unbegreiflichkeit)
Entwicklungen werden als nicht mehr verstehbar erlebt
Wie BANI im Praxisalltag spürbar wird
Viele Praxisinhaberinnen berichten von genau diesen Dynamiken:
Eine Mitarbeiterin fällt plötzlich aus - und das gesamte Teamgefüge gerät ins Wanken. Und ein längerfristiger Ausfall kann heute zum Dominoeffekt führen: Behandlungszeiten, Teamdynamik, Patientenzufriedenheit, Liquidität - alles ist betroffen. Brüchigkeit ist keine Theorie mehr, sondern Alltag.
Die allgemeine Stimmung ist geprägt von latenter Überforderung: Fachkräftemangel, Pflege von Angehörigen, Klimaangst, Krieg, Zukunftssorgen. Diese kollektive Ängstlichkeit fließt ins Miteinander ein - sei es im Team oder bei den Patienten.
Nicht-Linearität spiegelt sich darin, dass scheinbar kleine Veränderungen - etwa eine Krankmeldung oder ein Medienbericht - ungeahnte Folgen haben. Auch im persönlichen Umfeld - ob bei einem selbst oder im Team - können private Veränderungen wie eine Trennung, ein Pflegefall oder Betreuungsmangel bei Kindern Auswirkungen haben, die in der Praxis mitgetragen werden müssen.
Und die Unbegreiflichkeit? Sie reicht von plötzlichen Entscheidungen auf politischer Ebene über widersprüchliche Medienberichte bis hin zu neuen Technologien wie der Telematik-infrastruktur oder Künstlichen Intelligenz, deren Auswirkungen schwer einzuschätzen sind.
Was früher „kompliziert“ war, ist heute oft „komplex“.
Was früher berechenbar erschien, wirkt heute paradox. Die Modelle VUCA und BANI helfen, diese Unterschiede sichtbar zu machen – und damit den eigenen Alltag besser zu verstehen.
Die folgende Übersicht fasst die zentralen Begriffe zusammen:

Warum das Modell-Verständnis hilft
Das Ziel ist nicht, mit Fachbegriffen um sich zu werfen. Sondern die Erkenntnis: Wenn sich die Welt verändert, sollte sich auch unsere Sprache mitentwickeln. Denn wenn wir etwas benennen können, können wir es leichter einordnen - und mit Kolleg:innen teilen. VUCA und BANI helfen, statt als persönliches Versagen Überforderung als Antwort auf reale Herausforderungen zu begreifen.
Sie zeigen:
- Es liegt nicht an mangelnder Kompetenz, wenn alte Strategien nicht mehr greifen.
- Es braucht neue Deutungsangebote, um das diffuse Gefühl von Kontrollverlust greifbar zu machen.
- Es darf auch traurig stimmen, dass gewohnte Sicherheitsversprechen nicht mehr gelten.
Und genau hier setzt ein neues Führungsverständnis an: Eines, das weder in heroischer Härte noch in resignativer Anpassung mündet - sondern in echter Klarheit. Und die beginnt mit Sprache.
Die Fortsetzung folgt dann in Teil 2:
"Zwischen Komplexität und Überlastung: Wie Praxisinhaber:innen im ambulanten Gesundheitswesen die VUCA-Welt erleben.“
→ Wer verstehen will, warum klare Regeln, Routinen und Planung immer seltener greifen, sollte VUCA im Detail kennen.
Wir vertiefen die vier Begriffe - und zeigen weiter auf, wie sie sich im Praxisalltag konkret bemerkbar machen. Als Sprache für das, was viele längst spüren - aber noch nicht benennen konnten.