
Zwischen Komplexität und Überlastung: Wie Praxisinhaber:innen im ambulanten Gesundheitswesen die VUCA-Welt erleben.
Jul 26, 2025Manchmal fühlt sich der Morgen in der eigenen Praxis an wie das Betreten eines Labyrinths, dessen Wände sich täglich verschieben. Die To-do-Liste wächst schneller als das Vertrauen, alles bewältigen zu können. Und da ist dieses leise, schwer greifbare Gefühl: Irgendetwas zerrt – an Kraft, an Klarheit, an Sinn.
Vielleicht lohnt es sich, genauer hinzuschauen, woher dieses Ziehen kommt – und was es uns sagen will.
Mitten im Sturm: Die VUCA-Welt im Gesundheitswesen erleben
Wer heute eine Praxis im ambulanten Gesundheitswesen führt, kennt das Gefühl, mitten im Sturm zu stehen. Die sogenannte VUCA-Welt – geprägt von Volatilität (Volatility), Unsicherheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) – ist längst Realität geworden. Was das im Alltag bedeutet? Es fühlt sich oft an, als würde man auf beweglichem Boden stehen, während sich die Regeln ständig ändern.
Disclaimer
Volatilität: Ständige Veränderungen als neue Normalität
Kaum ist eine neue Leitlinie oder rechtliche Vorgabe umgesetzt, steht schon die nächste Änderung ins Haus. Praxisinhaber:innen müssen sich ständig anpassen, Prozesse überarbeiten, Mitarbeitende schulen und Patienten informieren. Das Tempo, mit dem neue Anforderungen kommen, ist hoch – und es bleibt selten Zeit zum Durchatmen. Viele Kolleg:innen berichten: Kaum hat man sich auf eine neue Vorgabe oder Technik eingestellt, steht schon die nächste Änderung vor der Tür. Orientierung ist Teil des Berufs – aber bei diesem Tempo entsteht eher das Gefühl, sich im Kreis zu drehen als wirklich weiterzukommen.
Unsicherheit: Strategien auf wackeligem Fundament
Hinzu kommt die Unsicherheit. Politische Entscheidungen – etwa zur Vergütung oder zur Zukunftsfähigkeit bestimmter Versorgungsmodelle – sind oft unklar oder ändern sich kurzfristig. Für die Praxisführung bedeutet das: Langfristige Planung wird zum Glücksspiel. Viele fragen sich: Lohnt sich die Investition in neue Technik? Bleibt das aktuelle Vergütungssystem bestehen? Wie lange wird der Fachkräftemangel noch andauern?
Komplexität: Informationsflut und Digitalisierung
Ob neue Software, geänderte Datenschutzregeln, sich widersprechende Empfehlungen oder steigende Erwartungen von Patient:innen – es wird zunehmend schwieriger, alles gleichzeitig im Blick zu behalten. Der Praxisalltag gleicht oft einem Jonglierakt mit zu vielen Bällen: medizinische Exzellenz, wirtschaftliche Verantwortung, technischer Wandel, Personalführung und behördliche Vorgaben.
Ambiguität: Zwischen den Zeilen lesen
Und dann ist da noch die Ambiguität. Widersprüchliche Meinungen, unklare Vorschriften und Interpretationsspielräume gehören zum Alltag. Was heute als „Best Practice“ gilt, kann morgen schon wieder anders bewertet werden. Das sorgt für Unsicherheit im Team und erschwert die Umsetzung im Praxisalltag. Manchmal bleibt nur, pragmatische Entscheidungen zu treffen und flexibel zu bleiben – auch wenn das bedeutet, nicht immer auf alle Fragen eine eindeutige Antwort zu haben.
Im Ergebnis erleben Praxisinhaber:innen eine Arbeitswelt, in der sie ständig gefordert sind, sich neu zu orientieren, Risiken abzuwägen und mit Unsicherheiten zu leben. Viele berichten, dass nicht mehr die einzelne Aufgabe das Problem sei – sondern die Gleichzeitigkeit, mit der alles passiert. Entscheidungen müssen unter Zeitdruck getroffen werden, oft ohne vollständige Informationen. Immer wieder entsteht das Gefühl, dass nichts mehr wirklich abgeschlossen werden kann, weil ständig neue Anforderungen auftauchen. Orientierung und Klarheit? Kaum möglich – denn mit jedem Schritt scheint sich das Spielfeld erneut zu verändern. Die VUCA-Welt ist kein Schlagwort mehr, sondern gelebte Realität – Tag für Tag, Patient für Patient.
Unsichtbare Lasten: Systemische Erschöpfung und Werte-Konflikte
Wer täglich mit diesen Herausforderungen jongliert, spürt: Es geht längst nicht nur um Organisation oder Effizienz. Es geht um etwas Tieferes. Um das Gefühl, innerlich zu ermüden – nicht aus Schwäche, sondern weil die Anforderungen diffus, widersprüchlich und oft unlösbar wirken. Genau hier beginnen die unsichtbaren Lasten.
Im ambulanten Gesundheitswesen hat sich in den letzten Jahren vieles verändert – und das spüren Praxisinhaber:innen jeden Tag. Der Strukturwandel, der durch Digitalisierung, neue Abrechnungssysteme und ständig wachsende Verwaltungsaufgaben vorangetrieben wird, sorgt für eine gefühlte Überforderung, die kaum noch zu ignorieren ist. Was früher mit einer überschaubaren Menge an Papierkram erledigt war, ist heute ein Dschungel aus Formularen, Datenschutzvorgaben und IT-Sicherheitsfragen. Und das alles neben dem eigentlichen Kerngeschäft: der Versorgung von Patient:innen.
Viele berichten, dass sie sich immer öfter fragen, wie sie all das noch stemmen sollen. Es ist nicht nur die Masse an Aufgaben, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der sich Anforderungen ändern. Einmal kurz durchatmen? Kaum möglich. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass gerade diese ständige Überforderung ein zentraler Faktor für die zunehmende Erschöpfung im Gesundheitswesen ist.
Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen persönlicher Belastung und organisationalem Druck immer mehr. Was früher klar getrennt war – die eigene Belastbarkeit und die der Praxis als Ganzes – vermischt sich heute. Wenn das Team am Limit arbeitet, spürt das jede:r Einzelne. Und umgekehrt. Es entsteht eine Art kollektive Erschöpfung, die sich wie ein unsichtbarer Schleier über den Praxisalltag legt. Manchmal reicht schon ein kleiner Auslöser, und das Gefühl, nicht mehr hinterherzukommen, ist wieder da.
Hinzu kommt der ökonomische Druck, der die ärztliche Berufung immer öfter in Frage stellt. Die steigenden Kosten für Personal, Technik und Fortbildungen treffen auf stagnierende oder sogar sinkende Vergütungen. Viele Praxisinhaber:innen stehen vor der Frage:
Wie kann ich gute Medizin machen, wenn ich gleichzeitig ständig auf die Zahlen achten muss?
Auch hier deuten Studien darauf hin, dass dieser Spagat zwischen wirtschaftlicher Notwendigkeit und ärztlichem Ethos eine der größten Belastungen für Praxisinhaber:innen ist.
Und dann sind da die ethischen Dilemmata, die den Alltag zusätzlich belasten. Etwa, wenn Patient:innen mit akuten Beschwerden dringend Hilfe brauchen – und es objektiv keine Termine mehr gibt. Was wiegt schwerer: die eigene Erholung, die Pausenzeiten des Teams – oder der Versuch, doch noch irgendwo Raum zu schaffen? Oder wenn Leistungen medizinisch geboten wären, aber aufgrund von Budgetgrenzen nicht mehr abgerechnet werden können – während Patient:innen keinerlei Verständnis dafür zeigen, weil Öffentlichkeit und Politik ein ganz anderes Bild zeichnen.
Solche Situationen stellen nicht nur medizinisches Know-how auf die Probe, sondern das gesamte innere Koordinatensystem. Es braucht Standfestigkeit, Mitgefühl – und die Fähigkeit, mit sich selbst im Reinen zu bleiben, obwohl das Außen kaum Spielraum lässt.
"Es ist, als würde man ständig jonglieren – zwischen Patientenwohl,
Wirtschaftlichkeit und den eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen.
Und manchmal weiß man gar nicht mehr, was zuerst runterfällt“
All diese Faktoren – Strukturwandel, kollektive Erschöpfung, ökonomischer Druck und ethische Konflikte – greifen ineinander und machen die unsichtbaren Lasten im Praxisalltag spürbar schwer. Die Herausforderungen sind vielschichtig, und einfache Lösungen gibt es selten.
Miteinander dem Wandel begegnen
Am Ende dieses Blicks auf die Herausforderungen im ambulanten Gesundheitswesen bleibt eines klar: Die Komplexität, mit der Praxisinhaber:innen heute konfrontiert sind, ist kein individuelles Problem. Sie ist Ausdruck eines Systems im Wandel.
Und genau hier zeigt sich ein möglicher Wendepunkt – weg von Einzelverantwortung hin zu kollektiver Lösungsfindung. Denn systemische Herausforderungen lassen sich nicht im Alleingang lösen. Sie brauchen Offenheit, Reflexion – und das gemeinsame Ringen um tragfähige Antworten.
Manche Dinge tragen sich leichter, wenn sie Worte bekommen. Denn Klarheit beginnt mit Sprache. Erst wenn Dinge ausgesprochen werden – Widersprüche, Erschöpfung, aber auch Erfolge - entsteht ein Raum, in dem Veränderung möglich wird.
Denn der Wandel da draußen verändert nicht nur die Abläufe – er verändert auch uns.
Er rüttelt an unserer inneren Stabilität, an Rollenbildern, an dem, was uns einst selbstverständlich erschien. Wie wir diesen inneren Wandel erleben , was das mit unserer Selbstwahrnehmung macht und warum genau darin neue Verbindung entstehen kann - damit setzen wir uns im nächsten Teil der Serie gemeinsam auseinander.
Und im nächsten Teil?
Geht es um die Frage, wie ein guter Umgang damit aussehen könnte. Nicht als fertige Lösung, sondern als gemeinsames Ausloten: Was hilft uns, mit dem Unfertigen klarzukommen – und dabei handlungsfähig zu bleiben?
Denn die Zukunft der ambulanten Versorgung entsteht nicht im Alleingang – sondern im Miteinander.