Was, wenn es nicht normal ist, in der Mittagspause Arztbriefe zu tippen?
In vielen Praxen funktioniert noch alles – weil Inhaber:innen und Mitarbeitende es mit sich selbst ausgleichen.
Was, wenn deine Erschöpfung kein persönliches Defizit ist – sondern Ausdruck eines kollektiven Dilemmas?
Die stille Frage hinter der Erschöpfung
Manche sagen: „Ich bin einfach müde.“
Andere: „Ich muss mich mal wieder sortieren.“
Aber was sie meinen, ist oft etwas Tieferes – ein Gefühl von:
„So, wie es gerade läuft, geht es nicht mehr lange gut.“
Was dann folgt, ist meist kein Umbruch.
Sondern ein stilles Anpassen. Ein weiteres Mittragen. Ein erneutes Zurechtrücken der eigenen Kräfte.
Es geht ja um Verantwortung – für Patient:innen, für Mitarbeitende, für ein System, das nie Pause macht (aber dafür sehr viele Pausenzettel verwaltet).
Wenn Kompensation zur Strategie wird
Viele Praxisinhaber:innen im Gesundheitswesen erleben einen unbenannten Spagat:
Zwischen medizinischem Anspruch, unternehmerischer Realität und persönlicher Haltung.
Die Leitbilder sind klar – aber der Alltag hat bekanntlich andere Pläne.
Was zählt: Taktung, Effizienz, Funktion.
Und so geschieht es fast unbemerkt:
Man beginnt, das System mit den eigenen Substanz auszubalancieren – zum Beispiel, indem man in der Mittagspause Mails beantwortet, Arztbriefe tippt oder Versicherungsschreiben abarbeitet.
Ethische Spannungen werden nicht verhandelt – sondern geschluckt (oft mit einem Kaffee, manchmal einfach so).
Was fehlt, wird mit Zeit, Energie – und häufig mit dem Verzicht eigener Bedürfnisse ausgeglichen.
Der systemische Anteil: Es liegt nicht nur an dir
Was, wenn das Gefühl von Erschöpfung weniger mit deiner Belastbarkeit zu tun hat – und mehr mit der Unmöglichkeit, widersprüchliche Rollen dauerhaft miteinander zu versöhnen?
Der Anspruch, gute Medizin zu machen.
Der Wunsch, menschlich präsent zu sein.
Die Realität von Budget, Abrechnung, Zeitdruck.
Der Anspruch, die eigene Praxis zu führen – und gleichzeitig zu leben (manchmal sogar zu Abend zu essen).
Was, wenn das ständige Spagat-Halten kein persönliches Scheitern ist –sondern ein Hinweis auf strukturelle Überforderung?
Räume für systemische Müdigkeit
In unseren Gesprächen taucht ein Satz immer wieder auf:
„Ich merke, dass es mich kostet – aber ich mache weiter. Weil ich meine Patienten nicht hängen lassen will.“
Manchmal klingt es auch so:
„Eigentlich weiß ich, dass das nicht mehr stimmig ist – aber ich hab keine Ideen mehr, wie ich das lösen könnte“
Solche Sätze sind weder Stärke noch Schwäche.
Sie sind Indikatoren.
Für das, was im System nicht mitgedacht wird:
Dass Menschen nicht unbegrenzt kompensieren können.
Dass Haltung Kraft braucht.
Und dass es Räume braucht, in denen diese Spannungen ausgesprochen – nicht allein getragen werden.
Wenn du dich darin wiedererkennst …
Wenn du manchmal spürst, dass deine Erschöpfung weniger mit dir zu tun hat – und mehr mit dem, was du jeden Tag mittragen musst – dann bist du nicht allein.
Vielleicht ist es Zeit, das, was bisher still geschultert wurde, in Worte zu fassen.
Nicht um zu klagen -
Sondern um sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bleibt – wie die stille Erschöpfung, das anhaltende Grübeln nachts oder der Moment, in dem man auf dem Heimweg nicht mehr weiß, was man zum Abendessen essen möchte, weil einfach alles zu viel erscheint.
Wenn du magst, bleib dabei.
Wir beginnen, die Sprache dafür zu finden.
Mehr dann beim nächsten Mal.
Bis dahin: Manches wird klarer beim Schreiben.
Anderes beim Lesen. Danke fürs Dabeisein.
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